Vor ca 140 Jahren benannte der amerikanische Arzt und Sohn eines Pfarrers Dr. Andrew T. Still erstmalig das Konzept bzw. die Philosophie der Osteopathie. Es war und ist keine statische Behandlungsmethode, sondern eine Denkweise und eine innere Haltung, auf welchen Behandlung fußt. Seither, so glaubt man, sei das Osteopathische Konzept kontinuierlich weiterentwickelt worden und seine deutlich später festgelegten Prinzipien basieren auf der sog. Consensus Declaration von 1953, Kirksville/Missouri.
Die heutzutage didaktisch vermittelte und therapeutisch verabreichte Osteopathie stellt eine eigenständige, ausnahmslos händisch verabreichte Form der Medizin dar.
Prinzipiell ist aus osteopathischem Blickwinkel der gesamte Körper als Einheit zu betrachten, d.h. Strukturen entwickeln sich embryologisch in gegenseitiger Beeinflussung nebeneinander sowie in einer bestimmten Chronologie und existieren daraufhin in Abhängigkeit von einander. Darüber hinaus beeinflussen sich die unterschiedlichen Ebenen des menschlichen Daseins (Struktur und Funktion, Geist, Seele) gegenseitig.
Wir positionieren uns in diesem Zusammenhang kritisch gegenüber isolierten Behandlungsansätzen wie der reinen Cranio-Sacralen-Therapie. Didaktisch war bisher eine Trennung der drei im Lernprozeß der Osteopathie zu unterscheidenden Systeme cranio-vertebro-sacral, parietal und organo-visceral scheinbar unumgänglich.
Bei der konkreten osteopathischen Untersuchung und Behandlung steht die Form (Struktur und Funktion) im Vordergrund. Alle Strukturen (Blutgefäße, Muskeln, Knochen, Organe, Viscera etc.) sind über bindegewebige Gewebeschichten, die derzeit sehr modernen Faszien, untereinander verbunden. Diese Faszien haben je nach Lokalisation diverse Namen. Es gibt sie um Muskeln herum genauso wie um den Darm oder im Inneren des Schädels. Über diese Kontinuität ist – mechanistisch gedacht – Fortleitung von Spannung möglich.
Als einfaches, aber eigentlich unpassendes weil lebloses Beispiel kann das Mobile dienen: zieht man nur an einem Ende, so reagiert das ganze Gebilde. Wird aber an einem anderen Ende zeitgleich festgehalten, so kann das Gesamtsystem des Mobiles nicht mehr als komplexes System adäquat reagieren, es kommt zu Spannungen innerhalb des Mobiles. Ähnlich kann es sich mit dem menschlichen Körper verhalten. Auch hierfür ein vereinfachtes fiktives Beispiel: Kam es z.B. vor einigen Jahren zu einer Verletzung am Sprunggelenk mit verbleibender, vielleicht nicht mehr bewusst wahrgenommener schmerzfreier Bewegungseinschränkung, erfordert diese eine Kompensation des übrigen Bewegungsapparates. Der biomechanische Ablauf der Bewegungen in Knie, Hüfte, Becken, der anderen unteren Extremität und gesamter Wirbelsäule mit Rippen kann sich also ändern. Löst sich diese Bewegungseinschränkung im Sprunggelenk nicht auf, muss sie in das Gesamtsystem des Organismus integriert werden, was eine Anpassung dessen an diese Einschränkung bedeutet. Diese Kompensation kann sehr lange symptomfrei funktionieren, bis weitere Einflüsse dazukommen, die ebenfalls kompensiert werden müssen. In unserem Beispiel kommt zu der alten Sprunggelenkseinschränkung vielleicht eine Lungenentzündung oder eine sitzende Tätigkeit am neuen Arbeitsplatz hinzu. Diese Einflüsse machen ihrerseits evtl. wiederum eine Adaptation nötig, nur manchmal kann der Körper diese nicht mehr leisten und es entstehen in der Folge Symptome jedweder Art. Was ist nun die Ursache dieser Symptome? Ist es die alte Sprunggelenksverletzung? Oder die Lungenentzündung, aufgrund derer die Rippen nicht mehr so beweglich sind und das Zwerchfell nicht ökonomisch kontrahieren und entspannen kann? Oder ist es der neue Arbeitsplatz? Oftmals gibt es mehrere sog. Ursachen oder zusammenwirkende Faktoren/Storungsfelder, die für eine letztendliche konkrete Symptomentwicklung verantwortlich sind. Selten gibt es die 'eine' Ursache.
Das osteopathische Konzept befreit in seiner Einzigartigkeit den Behandler von der oftmals scheinbar zwingend zu erbringenden, wissenschaftlich-rationalen Erklärung einer Symptomatik, und erlaubt eine im besten Fall systemisch wirkende Behandlung der osteopathischen Dysfunktionen. Wir müssen diesen Dysfunktionen keine Namen geben, wie z.B. XY-Syndrom. In unserem o.g. Beispiel kann also die Mobilisierung des Sprunggelenks genauso wie die Mobilisierung von Zwerchfell und Rippen zu einer Symptomreduktion führen. Oder auch der Arbeitsplatzwechsel, der natürlich kein primärer Inhalt der osteopathischen Behandlung ist.
Dieses sehr einfache Beispiel, welches ausdrücklich kein Anwendungsbeispiel im konkreten Sinne ist, soll zeigen, dass nicht einzelne Symptome oder Krankheiten, sondern der Mensch als Ganzes behandelt wird. Daher ist es auch wenig sinnvoll, Indikationen für dieses Prinzip zu benennen. Die Frage „Hilft Osteopathie bei Kopfschmerzen?“ kann also nicht beantwortet werden, da eben nicht das Symptom Kopfschmerz die zentrale Behandlungsmotivation darstellt. Symptomreduktion ist das Ergebnis der Auflösung von Einschränkungen osteopathischer Dysfunktionen.